Einleitung zum Buch

Entstanden sind die Heldensagen in der Übergangsepoche zwischen Gentilgesellschaft und der sich herausbildenden Klassengesellschaft des Frühfeudalismus.[1] Sie reihen sich damit nahtlos in die Heldensagen anderer Völker ein. Die Übergangsperiode von der Gentilgesellschaft zum Feudalismus bei den Germanen ist weiterhin gekennzeichnet durch eine epochale Umwälzung, in der das Zeitalter der Antike endete und das Mittelalter begann. Ja man kann sagen, dass hier unser heutiges Europa entstand. Verbunden mit diesem Übergang sind bei den Germanen die Bildung germanischer Staaten und die Entstehung des Königtums. Mit der Schaffung dieses König – und Staatentums wurde auch das Bewusstsein einer Gruppenzusammengehörigkeit geschaffen, das bedeutsame Ereignisse und Persönlichkeiten in ihrem kollektiven Gedächtnis bewahrte.[2]

Die alten Heldensagen waren im gesamten germanischen Sprachraum verbreitet und erfreuten sich hier großer Beliebtheit. Obwohl sich die Geschehnisse größtenteils auf dem Gebiet der Länder des heutigen Deutschlands, Italiens und Frankreichs abspielten, liegen uns auch viele Quellen der Sage aus Skandinavien, England und vor allem aus Island vor.

Die Sagen selbst handeln hauptsächlich von drei großen Stämmen und deren Königsgeschlechtern:

  • den Franken unter dem Geschlecht der Wälsungen

  • den Burgunden unter dem Geschlecht der Gibichungen

  • den Ostgoten unter dem Geschlecht der Amelungen

In der Sage leben alle Personen zur gleichen Zeit, obwohl zwischen den verschiedenen Ereignissen oft mehrere hundert Jahre liegen. Diese Gleichzeitigkeit in der Sage konnte nur durch einen Verschmelzungsprozess der Sagen aus den verschiedenen Jahrhunderten erreicht werden, in welchem Personen und Motive wegfielen, umgebildet wurden und neue hinzukamen. Dieser Verschmelzungsprozess ist überhaupt ein markanter Wesenszug der Sage, der aus den ursprünglichen, historischen Begebenheiten vollkommen neue Geschichten konstruierte. Die ersten Berührungspunkte zwischen den Sagen sind oft Namensähnlichkeiten bei Personen und Völkern, die dann den Verschmelzungsprozess einleiteten. Durch diesen Verschmelzungsprozess entstehen aber auch besondere Schwierigkeiten bei der Findung der ursprünglichen Geschehnisse. Eine Sagenperson vereint häufig viele geschichtliche Personen in sich und auch die Handlungsverläufe werden miteinander vermischt, so dass die ursprünglichen Ereignisse oft kaum noch zu erkennen sind. Aber diese Suche nach diesem Ursprung macht ja gerade den Reiz der Forschung aus. Eine Eigenheit der germanischen Heldensage ist, dass die Namen aller Mitglieder einer Königsfamilie mit dem gleichen Buchstaben beginnen. So war es für den Zuhörer leicht möglich, die betreffende Gestalt einem bestimmten Kreis zuzuordnen.


In der Wirklichkeit war dies nicht unbedingt der Fall. Deshalb hat die Sage oft etwas nachgeholfen, um diese Gleichheit der Anfangsbuchstaben zu erreichen. König und Volksstamm stimmen in der Sage mit den historischen Grundlagen meistens überein, die Ortsangaben fast nie. Die Erzähler benutzten oft die Heimatorte als bessere Orientierung und als Mittel der Identifikation des Hörers mit dem Sagenstoff. Ebenfalls wurden von den Sagenerzählern auch die jeweiligen kulturellen und modischen Gegebenheiten der gerade herrschenden Epoche entnommen. Sowohl in Deutschland, als auch in Skandinavien wurde die Sage so geschildert, als spielte sie in der gegenwärtigen Zeit und Kultur. So erinnern die Gestalten des Nordens stark an die bäuerliche Welt der Wikinger[3], wohingegen die deutschen Sagenhelden sich in einem ritterlichen, höfischen Kreis bewegen. An dieser Stelle sei auch noch einmal darauf verwiesen, dass die Sagen keine Geschichtsbücher sind. Die Trennung zwischen Geschichte und Sage wird ähnlich dem deutschen Abstraktionsprinzip in der Juristerei aber leider nicht immer beachtet. So steht noch heute in den meisten Geschichtsbüchern, die Burgunder errichteten ein Reich um Worms, obwohl die Hauptstadt der Burgunder wohl nie Worms war. Man hat diese Tatsache, wie auch viele weitere Tatsachen, einfach aus dem Nibelungenlied entnommen. Besonders Heimatforscher neigen oft dazu, diese Trennung zu missachten, um ihre Stadt bzw. ihre Heimatgegend aufzuwerten.


 

[1] Rolf Bräuer, Der Helden Minne, Triuwe und Ere, S. 370

[2] Uwe Ebel, Völsunga saga, S. 43

[3] Uwe Ebel, Völsunga saga, S. 22