Das tschuwaschische Nibelungenepos

Im Jahre 1992 entdeckte der Journalist, Publizist und Forscher Kai Ehlers bei seinem Freund Mischi Juchma, einem tschuwaschischen Schriftsteller, in Tscheboksary, der Hauptstadt Tschuwaschiens an der Wolga, ein Epos, welches ihm bekannt vorkam. (Die Tschuwaschen gelten als letzte Nachkommen der Hunnen und Wolgabulgaren.) Juchma, der sich auch die Sammlung tschuwaschischer Lieder und Sagen zur Aufgabe gemacht hatte, um sie vor der Vergessenheit zu bewahren, hatte neben weiteren Epen, welche nicht mit der Nibelungensage in Zusammenhang stehen, auch das tschuwaschische Epos Attil und Krimkilte aufgezeichnet. Es handelt sich hierbei um ein vollständiges Epos, welches Juchma vom Bruder seines Großvaters Pitraw Lissizyn 1956 aufgezeichnet hatte. Weiterhin sind überliefert zwei Seiten des gleichen Epos in anderer Form und ein Prosatext einer weiteren stark abweichenden Variante des Epos. Ein weiterer Prosatext weicht leicht vom ersten Epos ab.

Das Epos kann durchaus als Nibelungenepos bezeichnet werden, auch wenn Siegfried, Hagen und die Burgunderkönige im Epos nicht vorkommen. Die tschuwaschischen Sagengestalten des Epos Attil, Palat, Krimkilte und Herkke finden ihre Parallelen in den deutschen Sagengestalten des Nibelungenlieds, Etzel, Bloedel, Kriemhilt und Helche/Herche. Weitere Hauptprotagonisten sind Ajtaman, Tschupajrek und Markka. Das erste und vollständige Epos ist relativ umfangreich, enthält meiner Ansicht nach aber viele Verse, die auch für sich und ohne Zusammenhang zum Epos stehen können.

Kurze Inhaltsangabe: Der tschuwaschische Zar Attil besiegt seine Hauptfeinde, die Tschuchen unter Tschupajrek. Tschupajrek und seine Tochter Krimkilte geraten in Gefangenschaft. Attil verliebt sich in Krimkilte und vernachlässigt sein Reich, seine Frau und seine Kinder. Der Feldherr Markka, der sich darüber beschwert, wird verbannt. Tschupajrek wird freigelassen. Als die Feinde der Tschuwaschen dies ausnutzen, ist Attil geschwächt. Ajtaman, sein Held, ist erkrankt. Der Kampf geht unentschieden aus. Attil kehrt zurück und widmet sich wieder Krimkilte. Krimkilte willigt schließlich in die Hochzeit mit Attil ein. In der Hochzeitsnacht aber stirbt Attil. Ajtaman beginnt danach ein Verhältnis mit Krimkilte und flieht mit ihr zu den Tschuchen. Aber Markka kehrt zurück und wird Führer der Tschuwaschen. Unter Markka siegen die Tschuwaschen erneut. Ajtaman und Krimkilte geraten in Gefangenschaft. Beide werden auf Fürsprache Markkas nicht hingerichtet, sondern in die Steppe gejagt. Attil wird begraben und die Tschuwaschen brechen auf, sich eine neue Heimat zu suchen, da sie nun zu geschwächt sind.

Eine leicht abweichende Prosaerzählung berichtet, wie Neider Attil Böses wollen und zunächst seinen Feldherrn Markka verleumden, der verjagt wird. Dann schenkt man Attil ein sehr schönes gefangenes Mädchen. Attil verliebt sich unsterblich in sie. Nach der Hochzeit stirbt Attil und das Mädchen flieht mit dem Neider. Die Tschuwaschen sind nun den Angriffen ihrer Feinde ausgesetzt. Da erscheint Feldherr Markka wieder und führt die Tschuwaschen in eine neue Heimat.

Stark abweichende Prosaerzählung: Attil und Palat übernehmen nach dem Tod des Zaren die Herrschaft über die Tschuwaschen. Attil hat einen Heerführer Ajtaman, dem er bedingungslos vertraut. Palat ist kränklich und ertrinkt eines Tages. Attil wird dessen Tod angelastet, was Attil aufbringt. Ajtaman aber kann Attil beruhigen.
Attil besiegt die Tschuchen in der Schlacht, in der auch Ajtaman sich hervortut. Der Zar der Tschuchen und seine Tochter Krimkilte geraten in Gefangenschaft. Attil verliebt sich unsterblich in Krimkilte. Diese aber denkt an Rache und beginnt ein Verhältnis mit Ajtaman. Beide beschließen zu fliehen und planen die Flucht. Zum Schein willigt Krimkilte in die Heirat mit Attil ein. Man will Attil und die Gäste bei der Hochzeit betrunken machen und dann zu Pferde fliehen. Als die Zeit für den Segen kommt, zieht Krimkilte Reisekleidung an und flüstert Attil ins Ohr, sie liebe Ajtaman und erwarte von ihm ein Kind. Als Attil dies vernimmt, stürzt er tot zu Boden.

Auffallend ist die ähnlichkeit vor allem der Prosaerzählung zum Waltharius. Ich denke, dass sowohl der Waltharius als auch das Nibelungenlied auf eine Überlieferung zurückgehen, der auch die tschuwaschischen Lieder zugrunde liegen. Besonders interessant ist auch, dass eine Verbindung zu Siegfried und den Burgundern nicht besteht, sondern Krimkilte aus Rache für ihren Vater handelt. Dies scheint auch das ursprüngliche Motiv gewesen zu sein, denn dieses wird auch noch in den Quedlinburger Annalen aus dem 10.Jh. genannt. Ich denke für die Rekonstruktion der Entstehung des Nibelungenliedes, aber auch des Waltharius besitzt das tschuwaschische Nibelungenepos eine große Bedeutung und wird seinen Platz in der deutschen Nibelungenforschung finden.

Das Epos nebst deutscher Übersetzung wird demnächst im Rhombos-Verlag erscheinen.